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Noch eine Frage bitte, Herr Poerschke

Hans Poerschke hat Lenins Schriften untersucht und setzt sich in seinem Buch "Das Prinzip der Parteiliteratur" mit dem Verhältnis von Partei und Presse bei und unter Lenin auseinander.

Michael Meyen überschreibt sein Vorwort zu Ihrem Buch mit den Worten: „Vergesst Lenin! Aber studiert ihn vorher unbedingt!“ Was bedeutet diese Aussage vor dem Hintergrund Ihrer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Partei und Presse unter Lenin?

Ich betrachte sie als eine in paradoxer Form ausgesprochene, aber sehr ernst gemeinte Aufforderung, mit dem Erbe der revolutionären Arbeiterbewegung bedachtsam umzugehen. Die mit dem Kapitalismus untrennbar verbundene, täglich zunehmende Bedrohung zivilisierter menschlicher Existenz zwingt dazu, alle historische Erfahrung – gestrige wie heutige – des Kampfes um seine Überwindung darauf zu befragen, ob auf ihr aufzubauen für das weitere Ringen um gesellschaftliche Veränderung hilfreich sein kann. Wenn, wie für mich im Falle Lenins, die Antwort negativ ausfällt, dann darf man nicht davor zurückscheuen, unangenehme Erkenntnis (und Selbsterkenntnis) klar und offen auszusprechen. Das aber setzt unbedingt voraus, “ihn vorher unbedingt zu studieren”. Denn erst wenn das geschieht, wird es möglich, aus der Erfahrung wirklich etwas zu lernen und kann sich für den jeweiligen Betrachter herausstellen was das ist. Ansonsten bleibt Ablehnung oder Zustimmung eine Glaubensfrage, bleibt die Antwort rational unbegründet und pauschal. Und das ist inakzeptabel für jeden, dem an ernsthafter, zukunftssichernder gesellschaftlicher Veränderung gelegen ist.

Ihre historische und systematische Analyse des Prinzips der Parteiliteratur beschreiben Sie in Ihrer Einleitung auch als die Grundlage einer fundierten Kritik und Widerlegung. Was sind die Eckpunkte und was ist die Kraft dieser Widerlegung?

Um deutlich zu machen, wo bei Lenins Prinzip der Parteiliteratur der Hund begraben liegt, habe ich mich darum bemüht, den Werdegang dieses Prinzips so gut wie mir möglich zu rekonstruieren, seine reale Bedeutung aus der jeweiligen Situation und aus der dem Leninschen Konzept entsprechenden Funktionsweise der proletarischen Partei zu erklären und dies mit den Erfordernissen zu konfrontieren, denen eine Bewegung gerecht werden muss, die sich Emanzipation, Humanität und soziale Gerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hat. Ich hoffe, dass daraus eine wirksame “Kraft der Widerlegung” erwächst und dass das möglichst viele Leser überzeugen kann.

Sie erfassen das Prinzip der Parteiliteratur im historischen Kontext seiner Entstehung und weisen zugleich auf eine ausgedehnte Nachwirkung hin. Wie lässt sich dieses Nachwirken aus heutiger Perspektive verständlich machen?

Für ein solches Nachwirken gibt es mannigfache Gründe, jede kurze Antwort kann nur eine Andeutung sein. Zunächst existieren weiterhin Gesellschaften, zu deren Lebensgrundlagen das Meinungsmonopol der führenden Partei gehört; das lässt sich, wie auch Lenin schon wusste, nicht nach Belieben abstellen – “Wir wollen nicht Selbstmord begehen…” Vor allem aber: Die Widersprüche des Kapitalismus, zu deren revolutionärer Lösung Lenin einst angetreten ist, haben sich bis zur Existenzbedrohung für die Menschheit verschärft. Der Widerstand gegen notwendige Veränderung ist gewaltig, die Frist für sie begrenzt. Wen kann es wundern, dass der Wunsch lebt, Lenins Weg weiterzugehen, an den bisher größten Versuch einer gesellschaftlichen Alternative zur Ausbeuterordnung anzuknüpfen? Die Einsicht, dass dieser Weg nicht nur wegen vermeidbarer Fehler und Entstellungen eine Sackgasse war, ist ja dummerweise nicht gleichbedeutend mit der Offenbarung eines gangbaren…