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Noch eine Frage bitte, Herr Endreß und Herr Klimasch

Prof. Dr. Martin Endreß und Sebastian Klimasch haben mit "Strukturen der Lebenswelt" eine kritische Edition von Alfred Schütz' unvollendetem Hauptwerk herausgegeben

Welche Bedeutung hat Alfred Schütz für die Soziologie?

Mit dem Namen von Alfred Schütz verbindet sich die Begründung einer phänomenologisch- fundierten Soziologie. Sein Werk steht damit für die Weiterentwicklung der Philosophie Edmund Husserls in und für die Sozialwissenschaften. Mit der Ausrichtung soziologischen Denkens und Forschens auf die alltägliche Wirklichkeit und auf die in sie eingelagerten Sinnkonstitutions-, Sinndifferenzierungs- und Handlungsprozesse wird Schütz zu einem der zentralen Anreger für die seit den 1970er-Jahren in der Soziologie und weiteren Sozialwissenschaften vollzogene handlungstheoretische Wende. In diesem Zusammenhang kommt es zugleich – ausgehend von Schütz‘ methodologischen Reflexion der sozialwissenschaftlichen Beobachtung der sozialen Welt – zur Entwicklung der qualitativen empirischen Forschungsmethoden in Soziologie und Sozialwissenschaften.
Mit seiner Analyse der zeitlichen, räumlichen und sozialen Strukturierung der Lebenswelt entfaltet Schütz’ Werk eine allgemeine Grammatik für die Untersuchung der sozialen Welt, die vielfältige theoretische und empirische Anschlussmöglichkeiten für die Forschung eröffnet. So hat sein Werk Anregungen gegeben für die interaktionsanalytischen Studien von Harold Garfinkel und Erving Goffman, für die wissensanalytische Grundlegung der Soziologie bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann oder für die Strukturationstheorie von Anthony Giddens. Ebenso hat er einen kritisch-konstruktiven Reflexionshorizont für die Entwürfe von Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas oder auch Zygmunt Bauman geliefert.

Welchen Stellenwert haben die „Strukturen der Lebenswelt“ innerhalb seines Werkes?

Mit den „Strukturen der Lebenswelt“ plante Alfred Schütz seine „Studien über die philosophischen Grundlagen der Sozialwissenschaften“ sowohl fortzusetzen als auch die Erträge seiner zahlreichen Einzelstudien zu diesem Thema in systematischer Form zu präsentieren. Seine persönliche Lebenssituation war dadurch gekennzeichnet, dass er sowohl vor als auch nach seinem Exil von Wien nach New York eine außerakademische Berufstätigkeit ausüben musste. Zudem war diese Zeit durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg geprägt. Aufgrund dieser Lebensumstände war es Schütz in den Jahren nach seiner 1932 erschienenen Erstlingsschrift „Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt“ lediglich möglich, seine phänomenologisch fundierte Sozialtheorie und Soziologie in Form von einzelnen Aufsätzen voranzutreiben.
Entsprechend begann Schütz unmittelbar nach dem Ende seiner außerakademischen Berufstätigkeit im Sommer und Herbst des Jahres 1958 damit, Gliederungsentwürfe, Skizzen und Notizen für eine geplante systematische Darstellung seines Werkes vorzubereiten. Doch das Projekt, mit den „Strukturen der Lebenswelt“ sowohl „eine detaillierte phänomenologische Analyse der Strukturierung der Lebenswelt“ vorzulegen als auch die „Probleme der Konzept- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften“ einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen, war aufgrund seines sich ab Ende 1958 rapide verschlechternden Gesundheitszustandes für ihn nicht mehr realisierbar. So konnte Schütz lediglich noch eine Kompositionspartitur hinterlassen, die seine Pläne für das auszuarbeitende Manuskript umrissen. Sein früher Tod im Alter von gerade einmal 60 Jahren im Frühjahr 1959 machte diese Unterlagen zu den einzigen Quellen für die Rekonstruktion der von ihm geplanten zusammenfassenden Darstellung seiner phänomenologisch fundierten Soziologie.
Diese Systematik sollte das gesamte Spektrum seines Denkens abdecken: Ausgehend von einer umfassenden Beschreibung der „natürlichen Einstellung“ in der alltäglichen Lebenswelt, sollte deren zeitliche, räumliche und soziale Aufschichtung, der Aufbau des Wissens von dieser Lebenswelt und dessen Gliederung in Typiken und Relevanzen, die Lebenswelt als Bereich des Handelns sowie die Frage nach den Grenzen und Transzendenzen der Lebenswelt zum Gegenstand werden. In einem abschließenden Kapitel sollten sodann die erkenntnistheoretischen Fragen der „Wissenschaften von der Lebenswelt“ thematisiert werden.

Wie würde Alfred Schütz vermutlich auf die Corona-Krise reagieren?

Bedingt durch seine biografischen und arbeitsweltlichen sowie durch die allgemeinen weltgeschichtlichen Lebensumstände hat sich Alfred Schütz zeitlebens nicht zu aktuellen tages- und weltpolitischen Ereignissen öffentlich geäußert. Insbesondere in den Jahren nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das „Deutsche Reich“ im Frühjahr 1938 und in den Jahren des Zweiten Weltkrieges war er ein „Mann der Tat“, indem er zahlreichen Bekannten und Freunden beim Erwerb von Ausreisepapieren, bei der Sicherung ihrer finanziellen Grundlagen sowie mit rechtlicher Beratung zur Seite stand. Auf die Corona-Krise hätte er entsprechend wohl zunächst einmal auch mit lebenspraktischer Klugheit und Fürsorge – wo immer diese ihm möglich wäre – reagiert.
Hinzu kommt der Umstand, dass Krisen, Kriege oder Katastrophen ebenso wenig wie Ausnahmezustände oder Ausgangssperren Gegenstand des Nachdenkens bzw. der Verschriftlichungen von Schütz gewesen sind. So ist man für eine Beschreibung wie Beurteilung entsprechender Szenarien auch hier auf die Anwendung der generellen sozialtheoretischen Argumentationen in den „Strukturen der Lebenswelt“ angewiesen.
Ein denkbarer theoretisch-analytischer Kommentar zur Corona-Krise mit den Mitteln der phänomenologisch fundierten Sozialtheorie ließe sich aus Schütz’ Sicht wohl insbesondere in drei Richtungen denken: a) mit Blick auf die elementare alltagsweltliche Neujustierung der Strukturen der Lebenswelt; b) auf die markante Restrukturierung der etablierten Relevanzhierarchien des alltäglichen und gesellschaftlichen Lebens sowie c) mit Blick auf die Grenzen des Sozialen.

Ad a) Mit Blick auf die von Schütz in den „Strukturen der Lebenswelt“ ausgearbeitete zeitliche, räumliche und soziale Schichtung der Lebenswelt lassen sich gegenwärtig in allen drei Strukturdimensionen erhebliche Einschnitte und Veränderungen der historischen Ausprägung dieser Strukturen identifizieren: So erleben wir eine erhebliche Entschleunigung des regulären gesellschaftlichen Lebens, zugleich stehen wir aber vermutlich vor einer Beschleunigung der Veränderung des routinisierten westlichen Lebensstils. In räumlicher Hinsicht erleben und beobachten wir u. a. durch Ausgangsbeschränkungen eine grundlegende Einschränkung der Reichweiten menschlichen Handelns und Wirkens. Und in sozialer Hinsicht schließlich erfahren wir über das „social distancing“ eine markante Zurückführung des sozialen Lebens und damit eine elementare Verlagerung der Schwerpunkte des alltäglichen Lebens weg von den Fern- und hin zu den sozialen Nahbeziehungen; mit all den Ambivalenzen und Risiken, die derartige Einschnitte typischerweise mit sich bringen. Dabei dürften die Konsequenzen dieser – wenn auch nur mittelfristigen – Veränderungen nicht einfach abzuschätzen sein.

Ad b) Auch in relevanztheoretischer Hinsicht sind die gegenwärtigen Entwicklungen der Corona-Pandemie insofern folgenreich, als sie zu einer Herausforderung, wenn nicht gar zu einer Umkehrung der alltäglichen und gesellschaftlichen Relevanzhierarchien beitragen: Räumliche und soziale Erreichbarkeiten, Zugänglichkeiten und Verfügbarkeiten im zuvor beschriebenen Sinne werden plötzlich zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt und subjektive wie gesellschaftliche Relevanzen für Lebenspläne und -formen sowie daraus sich ableitende Handlungspläne scheinen momentan auf dem Spiel zu stehen. Wenn etwa Existenzgründerinnen, Solo-Selbstständige ihrer Beschäftigung nicht mehr nachgehen können oder Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, wenn insbesondere junge Familien die Kinderbetreuung wieder selbst übernehmen (müssen), dann vollzieht sich eine markante Restrukturierung der etablierten alltäglichen Relevanzhierarchien: Nunmehr stehen völlig andere Handlungsprobleme auf der Agenda, die gänzlich andere Aufmerksamkeiten und Regelungen des Alltagslebens erfordern. Diese Entwicklungen werden dabei aktuell typischerweise von entsprechenden Diskursen um Relevanzen und Wertigkeiten – etwa um den Stellenwert von Gesundheit und Wirtschaft, Kindeswohl, Bildungs-, Chancen- und Generationengerechtigkeit – flankiert. In solchen Debatten verhandeln Gesellschaften über die Abwägung von Relevanzen ihre politischen und sozialen Orientierungsmuster. Ob und inwiefern diese mehr oder weniger öffentlich ausgetragenen Diskurse zu einer nachhaltigen Neujustierung gesellschaftlich geteilter und ggf. auch politisch „angeordneter“ Relevanzhierarchien führen werden, das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer absehbar.

Ad c) Schließlich ergeben sich im Hinblick auf die Grenzen des Sozialen aktuell massive Verschiebungen. So ist ein Virus zunächst einmal für das menschliche Auge unsichtbar, es übersteigt in diesem Sinne die unmittelbare Alltagserfahrung per se und ist nur mittelbar, über technische Instrumente und Zeichensysteme erfahrbar. In diesem Sinne steht das Virus als Sinnbild für – mit Schütz gesprochen – „Transzendenz“. D. h. für etwas, das wir versuchen müssen „auf den Begriff zu bringen, faßbar und der gewohnten Erfahrung zugänglich zu machen, zu zähmen“ (Schütz/Luckmann 2018, S. 590). Bezeichnenderweise verweist es dabei allerdings allgegenwärtig auf die letzte Grenze der Erfahrung: den Tod. Nun sei damit nicht behauptet, dass aktuell ausschließlich Todesangst sämtliche Handlungen motiviert, doch darf durchaus davon ausgegangen werden, dass sich die momentane Position des Virus in den Relevanzhierarchien aus diesem Umstand speist. Aufgrund des „lock downs“ sind wir dazu gezwungen, uns von Bereichen der Lebenswelt, die wir einmal in unsere Reichweite gebracht haben und von denen wir glaubten, sie künftig jederzeit wieder erreichen zu können, fern zu halten. Stattdessen wird vermehrt auf digitale Kommunikationswege zurückzugriffen. Hinsichtlich der ohnehin prinzipiell unüberschreitbaren Grenzen des Verstehens von Mitmenschen und der Verständigung mit ihnen, werden dabei eingeschliffene Begegnungs-, Beziehungs- und Kommunikationsmuster und -formate auf ganz neue Weise herausgefordert.

In allen drei Hinsichten ergeben sich mögliche Probleme, Herausforderungen und Risiken für Gegenwartsgesellschaften: Da sind zunächst einmal die Potenziale für Gewalt in sozialen Nahbeziehungen, aber auch Zerwürfnisse und Trennungen aufgrund verlorener Nähe-Distanz-Balancen anzuführen. Zudem droht der (zumindest temporäre) Verlust von zeitlichen Routinen als Lebenskorsett aufgrund entweder von Unterforderungen (bzw. aufgrund von Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit) oder durch Überforderungen wie bspw. im Falle der aktuell besonders beanspruchten Berufszweige. Daneben stehen die Herausforderungen bisher eingeschliffener Relevanzhierarchien durch bis vor kurzem noch vollkommen unvorstellbare Szenarien und Wertigkeitsdebatten mit Blick bspw. auf Grenzschließungen und -öffnungen oder auch Fragen der Einschränkung des öffentlichen Lebens und der gesellschaftlichen Wertschätzung von Berufen. Sie alle bringen die als selbstverständlich erachteten Muster gesellschaftlicher Relevanzen, also der Wertigkeitsurteile und auf sie bezogenen Argumentationen, derart ins Rutschen, dass mittelfristig keine Beruhigung dieses Erosionsprozesses zu erwarten ist.
Schließlich irritiert die Nicht-Fassbarkeit der Bedrohung durch dieses Virus nicht nur die weithin etablierten und vielfach für selbstverständlich genommenen Vorstellungen von Plan- und Machbarkeiten von Leben und Welt nachdrücklich und massiv, sondern diese Bedrohung trägt eine ganz neue Dimension von „Fundamentalangst“ in das soziale Leben hinein, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr vorkam. Die Außeralltäglichkeit des gegenwärtigen Lebenszusammenhangs bereitet solchermaßen dann zugleich die Bühne für die verschiedensten Formen angstgestützter Deutungsangebote in Gestalt von Verschwörungstheorien. Und Verschwörungstheorien, die die komplexe virologische, medizinische, gesellschaftliche und politische Lage auf höchst einfache Feindbilder reduzieren und damit Pseudo-Relevanzen setzen, entfalten ein erhebliches Desorientierungs- und Desintegrationspotenzial und können so zur Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wie auch der politischen Ordnung führen.