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Noch eine Frage bitte, Herr Krämer

In seinem Buch "How to Do Things with the Internet" entwickelt Benjamin Krämer unter Einbeziehung soziologischer und philosophischer Konzepte eine Handlungstheorie für das Internet

In Ihrer Einleitung charakterisieren Sie Ihre Theorie als eine, die eher “Probleme macht” als löst und so in eine Lücke stößt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar ist. Welche Lücke in der Theorielandschaft füllen Sie mit Ihrer Handlungstheorie des Internets?

Diese Theorie sensibilisiert zunächst für gewisse Dinge, so dass eine größere Bandbreite von Handlungsmöglichkeiten im Internet in den Blick kommen. Ein beträchtlicher Teil der Theorien und Forschung zu Onlinekommunikation geht von sprachlichen – und seltener visuellen – Botschaften aus, die online gestellt werden und den Anspruch haben, etwas über die Welt oder die Mitteilenden auszusagen oder vielleicht noch eine Meinung auszudrücken. Daneben passieren aber noch viele andere Dinge, die wir als Handeln einordnen würden: Gruppen werden gegründet, Menschen treten ihnen bei, Abstimmungen finden statt, Musikstücke werden empfohlen – also Fälle, in denen die Nutzung oder die technische Ausführung einer Funktion zumindest im weitesten Sinne als „Handeln“ verstanden werden kann. Und dieses Handeln ist kein rein beschreibendes Mitteilen und keine Meinungsäußerung, sondern ein anderer sozialer Sachverhalt.
Das mag noch eine einigermaßen offensichtliche Lücke sein, aber um Handeln online weiter zu verstehen, kann man den Begriff des Handelns problematisieren und fragen: Was gilt eigentlich wann als welche Handlung, insbesondere im Internet? Hier macht die Theorie also etwas zunächst selbstverständlich Erscheinendes zum Problem und analysiert Handlungen als Zuschreibungen – und ich behaupte, dass sich daraus viele gewinnbringende Analysemöglichkeiten ergeben!

Wieso nähern Sie sich dem Internet unter anderem über den Begriff des Handelns? Und was bedeutet das für herkömmliche Handlungstheorien, die kaum ein Handeln technischer Systeme in den Blick nehmen?

„Handlung“ ist ja zunächst einmal ein Grundbegriff der Sozialwissenschaften, wenn auch kein unumstrittener. Aber das wäre keine Analyse wert, wenn sich nicht mit Bezug auf das Internet neue Einsichten ergeben würden – mit Blick auf technisches „Handeln“, aber gerade auch mit Blick auf Sachverhalte, die schon immer so waren, aber derer man sich durch die Analyse von Online-Handeln eher bewusst wird. Zum Beispiel abstrahiert die Funktion des Likens ja von den genauen Intentionen und Motiven des Tuns. Und einem technischen System wird man nur sehr metaphorisch die „Absicht“ unterstellen, einen journalistischen Text zu „schreiben“. Aber ist es in der Bäckerei nicht auch egal, was die persönlichen Absichten sind, warum man Brot kauft, und was man sich sonst noch so alles dabei denkt?
Das ist keine völlig neue Einsicht, aber eine Handlungstheorie, die nach Intentionen, Motiven und überhaupt dem subjektiven Sinn des Tuns fragt, ist natürlich nicht an sich falsch, aber nicht die einzig mögliche. Ja sie unterlässt es vielleicht gerade zu analysieren, wann Intentionen und dergleichen auch keine Rolle spielen in der alltäglichen Praxis und bei der Zuschreibung von Handlungen.

Ich möchte außerdem einen Beitrag zur Diskussion leisten, wann und warum wir technischen Systemen Handlungsfähigkeit zuschreiben und ob es einen Kommunikationsbegriff geben kann, der nicht von vornherein auf Menschen eingeschränkt ist, aber auch nicht so entgrenzt, dass jegliches technisches Geschehen darunter fallen würde. Das ermöglicht es dann auch, differenziert zu beschreiben und zu analysieren, was im Bereich von Bots, automatisiertem Journalismus, Bilderkennung, Empfehlungsalgorithmen usw. möglich ist und wie das wahrgenommen wird.

In Ihrem Fazit bemerken Sie, dass sich Ihre Arbeit als der Anfang von etwas verstehen muss: Welche Wege können mit ihrer sozialen Ontologie des Internets noch beschritten werden?

Angefangen hat mein Projekt ja mit der vielleicht etwas naiven Frage, was es im Internet „gibt“, welche sozialen Sachverhalte dort mittels entsprechender Funktionalitäten repräsentiert sind. Bevor man diese Frage allerdings beantworten kann, muss man analysieren, wie soziale Sachverhalte online überhaupt beschrieben oder erst konstituiert werden. Nachdem dies einigermaßen geschafft ist, kann man sich vielleicht wieder der ursprünglichen Idee einer Typologie und einer Art Survey zuwenden, welche sozialen Strukturen denn üblicherweise auf verschiedenen Plattformen repräsentiert sind.
Und dann kann man sich fragen, warum und mit welchen Konsequenzen – warum gibt es online bestimmte Möglichkeiten, sich zu verbinden, organisieren, zu handeln usw. und manche nicht? Welche gesellschaftlichen und politischen bzw. politökonomischen Implikationen haben diese Handlungsmöglichkeiten? Und auf dieser Grundlage kann auch eine Gesellschaftsdiagnose und kritische Perspektive noch weiter ausgearbeitet werden, als ich es in meinem Buch getan habe.
Und es „gibt“ online noch mehr als die Strukturen und Handlungsmöglichkeiten, die ich bisher analysiert habe, es ist noch mehr repräsentiert: z.B. Raum und Zeit, oder Personalität (also die Identität, die Eigenschaften usw. von Personen). Schließlich habe ich als Gegenstück zur Handlung den Begriff der Praxis genutzt – Praxis ist bei mir das fortlaufende Tun, das als Handeln zugeschrieben und eventuell online repräsentiert wird. Weiter an einer Theorie der internetbezogenen Praxis zu arbeiten, ist auch etwas, das ich mir vornehme und wozu ich andere einladen würde.