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„Mein Kampf“ in den „Zeitungszeugen“: Entmystifizierung oder antisemitisches Propagandamaterial?

Wer sich heute am Kiosk die wöchentlich erscheinende Zeitschrift Zeitungszeugen kauft, findet darin als Beilage ein 16 Seiten starkes, blaues Pappheft mit dem Titel „Das unlesbare Buch“. Darauf: Adolf Hitler mit geschwärzter Augenpartie, darin: „wie von einem Nebel überzogene“ und somit unleserliche Auszüge aus Mein Kampf, kommentiert vom Dortmunder Journalistik-Professor Horst Pöttker.

Mit einer Startauflage von 100.000 Exemplaren ist dies die erste Ausgabe des Hefts mit dem Thema „Autobiografie“, folgen sollen die Abschnitte „Propaganda“ und „Ideologie“, was dem Aufbau des Originals entspricht.

Mit der „Vernebelung“ des Textes will Peter McGee, der britische Verleger von Zeitungszeugen, das Verkaufsverbot umgehen, das das Bayerische Finanzministerium beantragt hat. Dort liegt noch für die nächsten drei Jahre das Urheberrecht an Hitlers Buch, bevor dieses 2015, 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers, erlischt. Gestern Nachmittag erstritt das Finanzministerium, das auch Rechteinhaber anderer Erzeugnisse der NS-Publizistik ist, vor dem Landgericht München eine Einstweilige Verfügung – Herstellung und Verbreitung von Mein Kampf bleiben verboten, dies gilt auch für die Nutzung einzelner Passagen, was in anderen Fällen durch das Zitatrecht erlaubt ist. McGee wird gegen das Urteil vorgehen: „Das große Interesse unserer Leserschaft und die breite Unterstützung für unser Anliegen einer verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit diesem zentralen Werk der deutschen Geschichte bestärken uns in dem Wunsch nach einer abschließenden Klärung der Rechtslage.“

Doch geht es wirklich um die benannte verantwortungsvolle Auseinandersetzung oder schlicht um Geschäftemacherei? Der Zentralrat der Juden äußerte Bedenken und ist ebenfalls für ein Verbot der Wochenschrift Zeitungszeugen, der bereits die Faksimiles des Völkischen Beobachters und eines NS-Propaganda-Plakats beilagen. So sprach Generalsekretär Stephan J. Kramer von „Kopiervorlagen für Nachwuchsnazis in jedem Zeitungskiosk“ und fürchtet, „dass hier nach der Methode ,Hitler sells‘ in unverantwortlicher Weise kommerziellen Interessen Vorrang vor fundierter Aufklärung eingeräumt wird“. Auch Michel Friedman kritisiert das Erscheinen der Hitler-Beilagen so kurz vor dem Ende des Urheberschutzes: “Wenn dieses menschenverachtende Machwerk schon publiziert werden muss, dann möchte ich, dass es in einem verantwortungsbewussten Verlag in einer sorgfältigen Edition geschieht, didaktisch und historisch aufgearbeitet. Nicht das kommerzielle Interesse darf im Vordergrund stehen. Der richtige Verkaufsort ist der Buchhandel und nicht der Kiosk. Das Thema ist zu ernst, wenn man bedenkt, dass nach der neuesten Umfrage 20 Prozent der deutschen antisemitische Vorurteile haben.“

Prof. Dr. Horst Pöttker ist Herausgeber der Reihe „Öffentlichkeit und Geschichte“ im Herbert von Halem Verlag und veröffentlichte bereits mehrere Beiträge und Bücher zum Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit. Er ist Mitglied des Expertenteams von Zeitungszeugen und hat die Auszüge aus Hitlers Buch kommentiert. In der Einleitung hält er dagegen: „Die autobiografischen Kapitel von ‘Mein Kampf’ sind wichtig, um zu verstehen, warum so viele Deutsche der nationalsozialistischen Ideologie gefolgt sind und so das NS-Regime, den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz möglich gemacht haben. Denn sie zeigen, wie tief Hitlers Sozialisation, Gefühlswelt und Denkweise in Traditionen verankert sind, die für die (politische) Kultur Deutschlands und Österreichs prägend (gewesen) sind. Um zu begreifen, wie es dazu kommen konnte und in Zukunft vermieden werden kann, ist weniger das Absonderliche und Abschreckende der Person des späteren „Führers“ aufschlussreich als das Normale und deshalb sogar noch heute möglicherweise Überzeugende. Wer danach sucht, sollte allerdings auch fragen, wo bei Hitler das Normale ins Falsche und Paranoide umschlägt.“ Auch Prof. Dr. Marie-Luise Recker, ehemalige Inhaberin des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt, hält „die Diskussion für viel zu hoch gehängt“. Sie findet, gerade weil das Urheberrecht bald abläuft, die juristische Verhinderung der Veröffentlichung „grotesk“: „In den 50er Jahren mag es sinnvoll gewesen sein, jeglichen Nachdruck zu untersagen. Inzwischen kennt jeder Zeithistoriker Hitlers ‘Mein Kampf’, Studenten und Forscher arbeiten damit, wichtige Passagen sind bei Historikern zitiert und kommentiert: Wer will, kommt da ran.“ Sie vermutet: „Wer es liest, wird schnell ermüdet. Es ist eine unglaublich dröge Lektüre.“

Ob die sorgfältig kommentierte Ausgabe den von Peter McGee erwarteten breiten Leserkreis tatsächlich erreicht, wird abzuwarten sein. Es ist jedoch davon auszugehen, dass gerade die Verbotsdrohung die Nachfrage antreiben wird.