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Merkmale des klassischen Skandals
Eine Leseprobe aus dem Buch "Der entfesselte Skandal"
Skandale sind, das lässt sich leicht zeigen, überall. Und es ist unendlich leicht geworden, sich zu empören – auch ohne das Informationsgewitter der digitalen Überall-Medien. Man muss nur eine Zeitung zur Hand nehmen, am besten die mit den großen Schlagzeilen. Man muss nur die Abendnachrichten einschalten, vorzugsweise die der privaten Sender. Man muss sich nur in irgendeiner Weise mit den Erregungsmaschinen der modernen Mediengesellschaft verbinden. Und schon ist er da, unabweisbar, aufdringlich und laut: der Skandal. Er treibt uns um, wenn auch nur für kurze Zeit; er fordert Opfer, die wir schnell vergessen; er zwingt zur öffentlichen Buße, was uns freut.
Der Skandal ist allgegenwärtig – und zu einer Art Medium der Medien geworden: ein Raster zur Organisation von Erkenntnis und Aufmerksamkeit, eine Möglichkeit, ferne, unbekannte Sphären des Realen blitzschnell einzuordnen und ohne größere intellektuelle und sonstige Unkosten zu bewerten.* »Deutschlands frechster Arbeitsloser kassiert seit 36 Jahren Stütze!« »Die Kölner U-Bahn versinkt in einem Sumpf aus Pfusch und Korruption!« »Helene Hegemann hat beim Schreiben ihres Bestsellers plagiiert!« »Neue Missbrauchsvorwürfe gegen die katholische Kirche!« »Gammelfleisch in Berliner Imbissbuden!« »Auf deutschen Fußballplätzen wird geschummelt und bestochen!« »Doping im Sport!« »Schmiergeld von Siemens!« »Die Kundus-Affäre!« »Watergate!« »Nipplegate!« »Klimagate!« Und es vergeht kein Tag, an dem diese Gesellschaft nicht mit neuen Vorschlägen, sich zu erregen und zu empören, versorgt werden würde. Es gibt Finanz- und Korruptionsskandale, Sex- und Missbrauchsskandale, Skandale des Feuilletons und der intellektuellen Debatte, politische Skandale, Skandale der Kirchen und der Gewerkschaften, der Unternehmen, der Banken und der Medien, des Sports, des Theaters und der Literatur. Wer das Wort Skandal bei Google eingibt, also die moderne Form des Existenz- und Relevanznachweises führt, erhält gut 46 Millionen Treffer.
»Tag für Tag«, so der Philosoph Peter Sloterdijk, »versuchen Journalisten neue Erreger in die Arena einzuschleusen, und sie beobachten, ob der Skandal, den sie auslösen wollen, zu blühen beginnt. Man darf nicht vergessen, dass in jeder modernen Nation jeden Tag zwanzig bis dreißig Erregungsvorschläge lanciert werden, von denen naturgemäß die meisten nicht zu dem gewünschten Ergebnis führen. Die moderne Gesellschaft ist zwar eine sehr skandalisierungsfreudige Lebensform, aber sie nimmt nicht jeden Skandalisierungsvorschlag auf. Die meisten Erregungsvorschläge werden abgelehnt oder mit mäßigem Interesse studiert.«**
Wenn man die Verbreitungswege derartiger Erregungsvorschläge analysiert, unterschiedliche Phasen der Skandalisierung rekonstruiert, so zeigt sich: Der klassische, der in die massenmediale Logik eingebettete Skandal hat verschiedene Merkmale. Am Anfang steht unvermeidlich die Verfehlung, die Normverletzung. Es folgt die von Journalisten betriebene Enthüllung, dann – wenn das Thema greift – der Aufschrei, die kollektive Empörung des Publikums, schließlich das Ritual der Aufarbeitung und der öffentlichen Anklage mit allen Varianten der Reaktion. Manche der Beschuldigten rechtfertigen sich oder streiten alles ab. Sie bitten öffentlich um Entschuldigung und gestehen ihre Schuld. Sie erklären sich mehr oder minder trotzig zum Opfer und sehen das eigentliche Unrecht und den wirklichen Skandal in der Tatsache, dass man sie gerade attackiert hat. Schließlich kommt es zu einem letzten Schritt. »Die Beteiligten, Skandalierer und Skandalierte, müssen ihn,« so heißt es in einem Buch des Soziologen Karl Otto Hondrich, »in hintergründigem Zusammenwirken, selbst tun. Aber sie tun es unter einem Zwang: Die kollektiven Gefühle, aufs Höchste aufgebracht, verlangen Genugtuung. Verletzte Werte müssen geheilt, unscharfe Regeln verschärft, hochgestiegene Karrieristen gestürzt, Individuen geopfert werden – auf dem Altar der von vielen geteilten moralischen Gefühle.«***
Und dann beginnt, nicht für die Täter, nicht für die Opfer, aber doch für die Mehrheit der Leser, Hörer und Zuschauer das große Vergessen. Was bleibt, sind allenfalls Erinnerungsfetzen, Meinungen, gefühlte Wahrheiten. Das Publikum verliert das Interesse und wendet sich spätestens nach sechs bis acht Wochen neuen Themen zu, denn die allgemeine Erregung hat eine äußerst geringe Halbwertszeit. Jedem Aufreger ist ein rasches Verfallsdatum aufgeprägt. Und doch ist – aller Flüchtigkeit zum Trotz – der Moment der kollektiven Empörung besonders aufschlussreich. Denn hier probt die Allgemeinheit das große moralische Gespräch und erklärt sich, welche Werte gelten oder doch gelten sollen. Im Skandalschrei offenbaren Einzelne oder auch ganze Nationen ihr Verständnis von Normalität und vergewissern sich ihrer Werte: je gleichförmiger die Entrüstung, desto stabiler und akzeptierter das Wertesystem, das verletzt wurde. Eine offene, eine pluralistische Gesellschaft, die sich nicht mehr an positiv zu bestimmende Werte gebunden fühlt, eine Gesellschaft, die in ganz unterschiedliche Welten und Wirklichkeiten zerfällt, fingiert eine Einheit, eine kollektive Moral in der Abgrenzung und dem gemeinsamen Zorn auf das, was sie als schlecht und böse erkannt hat. Auch die Konfrontation mit dem Abseitigen, dem Unmoralischen und Skandalösen erlaubt es, so schon Emile Durkheim, der Mitbegründer der modernen Soziologie, letztlich moralische Normen zu bekräftigen und in der Grenzüberschreitung die Grenze selbst wieder sichtbar zu machen. Das ist die Moral der Unmoral.
(aus: “Der entfesselte Skandal”, S. 19ff.)
Anmerkungen
* Smoltczyk, Alexander (1999): Skandal! Die nackte Wahrheit. In: SPIEGELreporter, Nr. 12. S. 16-29.
** Sloterdijk, Peter (2007): Am Medienhimmel. Ein Gespräch mit Jana Kühle und Sugárka Sielaff. In: Bergmann, Jens/Pörksen, Bernhard (Hrsg.): Medienmenschen. Wie man Wirklichkeit inszeniert. Münster: Solibro. S. 273.
*** Hondrich, Karl Otto (2002): Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 16.
2 Kommentare
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Das ist kein Skandal, sondern ganz nomarl. Ich kann bei jedem der auf meine Homepage geht genau diese Daten (und noch ein paar mehr sehen) sehen. Das hat mich zuerst auch erschreckt, aber in diesem Falle sitze ja nunmal ICH auf der Big-Brother-Seite auch mal interessant.
gratulation! trifft einmal mehr genau den puls der zeit. eine wichtige publikation.
heinz m. fischer, fh joanneum, graz